Monat: Mai 2009
Heikelkeit (können wir, wo sich seit Hölderlin in der Disponibilität so viel geändert hat, überhaupt noch davon singen?)
Und man sah, dass ein Regen kommen würde, und die Leute befestigten die Zelte. Ich gesellte mich zu denen, die den krawalligen Rückenwind nutzten, um nach Hause zu kommen, im Wissen, dass ich dort nicht ankommen würde. Aber die Richtung stimmte. Aber es war mir egal. Und der Regen kam, und ich wurde naß bis auf die Knochen, weil ich nicht nach Hause gehen wollte und auch mich nicht unterstellen, denn es ist doch ein Nichts bloß mitten in der Fremde, wo man sich wundert und trockenbleibt. Meine Lügen waren klatschnass und klebten mir ans Gebein. Durchtränkt und an den Leib geschmiedet war alles, was ich hatte, und glich allem ringsum an Nässe. Die Nässe war mein Haus, mein Herd, mein Pferd, mein Bett, mein Himmelreich. Nie würde ich mehr ein Buch lesen, ohne an diese Nässe zu denken, denn ein Buch darf und soll sich nicht so nässen, nicht aber schadet dies dem Menschen, der die Füße wie die Haare bis aufs Gesicht darein taucht wie in ein köstlich mit Kräutern und Hagelkörnern verziertes Bad. Was waren wir früher für kräftige, wohlgemute Menschen, skandiert der schottische Ahn, wie waren wir damals aus anderem Zeug gemacht. Wie viel weiser aber sind wir heute und ebenso gut gewachsen, widerspricht Johnson, haben wir doch gelernt, nicht Nässe zu scheuen und nicht den Wolkenbruch, wiewohl wir andauernd Menschen kränken und aufgrund der Telegraphenämter mehr Menschen als früher vergeblich auf etwas warten, was kein Telegraph je übermitteln konnte. Bücher, Küsse, Buchstaben, Schnauzer, Spitzen, und dass jemand die lose Haut um die Fingerknöchel experimentell so herumwalkt wie man bei sich selbst nur wagen würde.
… Formulary for a New Urbanism …
„The districts of this city could correspond to the whole spectrum of diverse feelings that one encounters by chance in everyday life.
Bizarre Quarter — Happy Quarter (specially reserved for habitation) — Noble and Tragic Quarter (for good children) — Historical Quarter (museums, schools) — Useful Quarter (hospital, tool shops) — Sinister Quarter, etc. And an Astrolarium which would group plant species in accordance with the relations they manifest with the stellar rhythm, a Planetary Garden along the lines the astronomer Thomas wants to establish at Laaer Berg in Vienna. Indispensable for giving the inhabitants a consciousness of the cosmic. Perhaps also a Death Quarter, not for dying in but so as to have somewhere to live in peace — I’m thinking here of Mexico and of a principle of cruelty in innocence that appeals more to me every day.
The Sinister Quarter, for example, would be a good replacement for those ill-reputed neighborhoods full of sordid dives and unsavory characters that many peoples once possessed in their capitals: they symbolized all the evil forces of life. The Sinister Quarter would have no need to harbor real dangers, such as traps, dungeons or mines. It would be difficult to get into, with a hideous decor (piercing whistles, alarm bells, sirens wailing intermittently, grotesque sculptures, power-driven mobiles, called Auto-Mobiles), and as poorly lit at night as it was blindingly lit during the day by an intensive use of reflection. At the center, the “Square of the Appalling Mobile.” Saturation of the market with a product causes the product’s market value to fall: thus, as they explored the Sinister Quarter, children would learn not to fear the anguishing occasions of life, but to be amused by them.“
from: Formulary for a New Urbanism, by Ivan Chtcheglov
das wunder der selbstbeeinflussung: der fall des demonstrators B.
„… Am erstaunlichsten waren aber die Fähigkeiten des quergestreiften Zwerchfells. Während sich für gewöhnlich dieses Muskelsegel bei der Atmung beiderseits gleich auf- und abwärts bewegt, ohne dass wir alle seine Bewegungsmöglichkeiten beherrschen könnten, hob es sich bei B. plötzlich auf Absicht hin links steil in die Höhe, um rechts ebenso steil abzufallen, so eine schiefe Ebene bildend, auf der das Herz mit einer drehenden Bewegung abwärts glitt. Die Abwärtsverschiebung des Herzens, wie sie sich leicht durch Beklopfen der Brustwand und mittels Durchleuchtung feststellen ließ, betrug volle 6-8 cm. …“ (so alfred brauchle: hypnose und autosuggestion)
ps: bei wilhelm lehmann schwillen die quitten.
pps: wobei, ich übertreibe, es ist nur eine: „Die Quitte schwillt.“
(gelber band gedichte, s. 29)
.. hm .. hm .. hm
zugg zuggg zugggi zuggi zuggi zugggi zugg.
… toujours l’amour …
„Hierauf begannen alle Adventisten Berlins, von der Nähe des Weltendes überzeugt, die ‚Prager Diele‘ häufig zu besuchen. Was ist Durow äußerlich? Ein Artist? Ein Tierpsychologe? Hier aber nahte, die Berechnungen der Komintern und die amerikanischen Anleihen außer acht lassend, das Weltende (zuguterletzt Schorle-Morle).
Wenn man sich daran erinnert, dass ‚Schorle-Morle‘ die deutsche Transformation des Generalstaats ‚Toujours l’amour‘ der Epoche der Napoleanischen Kriege ist, so wird ein derartiges Ende jedermann, selbst dem Maler Nathan Altmann annehmbar erscheinen. Doch nein, dieser wird dennoch sich nicht einverstanden erklären. Das Ende beunruhigte ihn überhaupt. Eschatologie ist ihm im tiefsten Grunde fremd. Er kaufte sich ein Motorrad und ließ sich mit ihm fotografieren. Doch zog er es vor, nicht darauf zu fahren. Ich glaube, dass das Motorrad sich durch eine unangenehme Stimme auszeichnete, während Altmann eine selten musikalische Natur ist. Lissitzky – der wäre darauf gefahren. Er hätte sich das Genick gebrochen, wäre aber gefahren. Wie sollte er auch anderes – Konstruktivisimus. Selbst im Café befasste er sich fortwährend mit Erfinden. (..) ‚Ein perfektes Paradox!‘
Diese treffende Definition ließe sich erweitern. Die Konstruktivisten ließen sich durch rein dekorative Locken verblenden, indes der Formalist Viktor Schklowski, das Café mit Tschechowchen Pausen, ja sogar mit Uhrenticken, ja sogar mit dem Rascheln eines sterbenden Obstgartens füllend, die ganze Seele, das ganze Innere, den ganzen verfluchten ‚Inhalt‘ aus sich herausblies: ‚Niemand liebt mich!‘
Das war selbstverständlich eine Metapher, den Schkowski wurde von vielen geliebt. Die Inhaberin der Familienpension, Frau Marzah, duldete demütig alles: den Formalismus, nächtliche Referate mit Debatten, selbst die Farbtube des Malers Tereschkowitsch und als letztes die Überliebe, etwas was vom Apostel Paulus kommt.“
Ehrenburg: Die russische Dichterkolonie im Café Prager Diele (1922-1923)
… und in Spanien tausendunddrei …
„Auf diese sterblichkeitsbedingte Endlichkeitslage – auf die Vergänglichkeieit – antwortet die Hermeneutik; denn Hermeneutik ist Festhalten dort, wo man nicht festhalten kann: dort muss man eben etwas statt dessen tun, nämlich interpretieren. Dabei ist der Festhaltungsversuch durch antiquarisierendes Interpretieren – durch Sammeln – eine ebenso symptomatische wie hilflose Gebärde: denn es reicht hierbei nicht aus, wenn man da Antiquaria sucht und – etwa – in Deutschland hunderte findet >und in Spanien tausendunddrei<*. Aber dieses antiquarisierende Interpretieren ist ohnehin nur der extreme Grenzfall dessen, was – als Replik auf Vergänglichkeit – die Interpretation normalerweise leistet: nämlich die Rettung der Verständlichkeit von Dingen und Texten in neuen Situationen (in sekundären Kontexten), an die sie sie anpasst.“
* Es gibt nicht nur den erotischen Don-Juanismus und den Don-Juanismus bei der Psychiaterwahl, sondern auch einen Don-Juanismus des Antiquarisierens: er ist ein Mitmotiv bei der Genesis des Museums.
Odo Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist