„Ich habe vergessen, wie ich in Erfahrung gebracht hatte, daß Dungfang Schuo* auch ein großer Gelehrter gewesen sei und ein Insekt mit dem Namen ‚Guai-dsai’** gekannt habe, eine Inkarnation des Geistes irgendeines zu unrecht Erschlagenen, das sich in Nichts auflöste, wenn man es in Wein tauchte. Ich war begierig, diese Geschichte in allen Einzelheiten zu hören, aber Mama Tschang konnte mir nicht weiterhelfen, schließlich war sie ja auch kein großer Gelehrter. Nun bot sich mir eine günstige Gelegenheit, ich konnte meinen Lehrer fragen.
‚Was ist das für ein Insekt, dieses „Guai-dsai“?‘ fragte ich schnell am Ende einer neuen Lektion, bevor ich entlassen war.
‚Das weiß ich nicht.‘ Er schien nicht sehr erfreut über meine Frage. Im Gegenteil, er blickte recht ärgerlich.
Ich schloss daraus, daß es sich für Schüler nicht geziemt, Fragen wie diese zu stellen; sie haben sich aufs Lernen zu konzentrieren.
* Ein als Witzbold bekannter Höfling und Berater (154-93 v.u.Z.) des Kaisers Wu Di aus der Han-Dynastie (Regierungszeit 140-87 v.u.Z.).
** ‚Guai-dsai‘ bedeutet ‚O wie seltsam‘ “
Ich sollte eigentlich schnurstracks nach Hause fahren und diese Textstelle posten, die Murasaki no Cigar und ich im Kaffeehaus soeben entdeckt hatten, begierig nach dem Witz Lu Hsüns sein Buch in der Mitte aufschlagend. Aber beim Bremsen fiel mir wieder dieser Geruch auf, und dass ich seit langem weiß, dass ich die Bremsklötze wechseln sollte, aber nie die Zeit nehme. Und das, obwohl ich schon länger sogar befürchte, dass sich das Metall in den Bremsklötzen drin schon meine Felgen aufschlitzt – eine zutiefst peinliche Sache. Also mache ich Halt bei Pank Rad, wo der Mechaniker – also ich bin in den ganzen Laden verliebt, seine Frisur, die Art wie er die Gangschaltungen sortiert und stapelt, wie alles organisiert ist, und er selbst in der Mitte, an unhypeigen nicht Hi-Tech ganz normal schönen Rennrädern schraubt. Er ist so trocken, lieb und kompetent wie der Kottan des Lukas Resetarits, im Overall. Alles super, er macht es gleich, kostet 10 Euro, in einer halben Stunde, ich kann warten oder spazierengehen. Die Freude an schneller Aktion und einfacher Kommunikation teilen wir, das Bügelschloss lege ich auf die Heizung. Aber nicht vergessen, warnt er.
Ich bin aber leider jemand, der sich in schlechter Gesellschaft angewöhnt hat, sich gedrückt zu fühlen, Nettigkeiten herauszupressen, und schwafle dummes Zeug. Das nervt ihn ein wenig. Und als ich nach zehn Minuten wiederkomme, um das vergessene Schloss zu holen, und ein bisschen lachen will über die Prophetie, ist er dazu nicht aufgelegt. „Ich habe es gesagt,“ meint er nur knapp und widmet sich wieder dem roten Rennrad in der Mitte des Raumes.
Und vor Scham schiebe ich mein Rad eine Weile die Pankstraße hinauf und verarbeite die Scham zum Vorsatz, mich etwas weniger unübersichtlich zu benehmen.
In die Liste der bestürzenden Ereignisse gehört auch der Moment, als gestern Abend in der Rumbalotte der lesende Tim Holland ein sprachliches Manöver machte, genau analog zu dem Satz mit den Bremsenbremsen, das ich als Kind austüftelte und von dem ich irgendwie durch Anerkennung Absolvenz begehrte. Denn ich spürte schon damals, es ist ein unglaublich nerviges Kunststück. Jetzt fällt mir aber das Wort nicht ein, mit dem Tim es machte.
Die Hybris, kanonische Blödeleien zu überbieten, steht keinem Schriftsteller gut an, nicht einmal als Kind. Leider war ich damals fern davon, das zu kapieren, und so fern war denn auch jede Linderung vom unangenehmen Gefühl des Forcierten. Und so habe ich mir das angewöhnt, das Forcierte.
….
Soeben machte etwas „ganz nah“ an mir: „brrt“. Dieser Computer wird immer intimer, dachte ich, ein komisches Computerkörpergeräusch, weil so erschrecken mich sonst nur Werbungen, die aus einem nicht aufzufindenden offenen Popup-Fenster erschallen. Kurz darauf flog die Wanze „Eh normal“ von hinter meiner Schulter auf den Laptopbildschirm. Wieder sehr erschreckt. Und vor Schreck auch eifrig Wanzenfeind. Hole Glas und Karton und befördere die Wanze nach draußen. Die Episode belebt total meine fade Zimmerexistenz, in der ich träge meine Papiere sortiere, unmotiviert, da alles so unwesentlich. Ein Hauch Stasi, nur durch das Wortspiel, scheint alles in die richtige Dimension zu rücken. So fern ist das alles – so fern ist mein Leben von den echten Problemen, von Gewalt.
Ich lese einen Bericht von nigerianischen Flüchtlingslagern, wo das Essen ausgeht. Das alles hat Boko Haram angerichtet. Ich werde wütend über die Sinnlosigkeit, aber egal, wem nutzt meine Wut? Jedenfalls erscheint alles Schreiben ohnmächtig und unnötig, wenn Leute am Verhungern sind.
Wütend macht mich dass die Idioten und Arschlöcher die Welt viel maßgeblicher gestalten, mit einem Schlag machen sie Fortschritt, Verteilungsbalancen, Kultur, alles „wie es gehen kann“ kaputt. Das sind keine Probleme, das sind Patzer. Probleme verlangen Nachdenken, Lösungen; Patzer verlangen Reparatur.
Sag also nicht: fern von den echten Problemen. Sag fern von der richtigen Reihung. Du musst nicht zuerst alle Probleme der Welt abschießen (eben!), bevor du dichten darfst. Im Gegenteil, die Umkehrung der Reihenfolge ist eine der Mittel, mit der die schöne menschliche Laune sich Raum verschafft. Dazu braucht es aber eine normale Reihenfolge, damit die Abweichung gestisch wirkt und nicht einfach wurscht ist. Eine Melodie der Welt, die nicht individuell ist. Diese Abschottung in Wohnungen ist sicher nicht ideal, um neben der Spezialistenarbeit auch immer ein bisschen Nächstensolidarität mitlaufen zu lassen.
Später fällt mir ein, dass das Tier wahrscheinlich aus einem Eck gekrochen ist, weil ich die Heizung angemacht hatte, und dachte, ein Sommer bräche wieder an. Es hoffte auf ein paar schöne Tage, stattdessen jetzt ein kalter Innenhof. Es tut mir leid.
Habe geschrieben, habe gelöscht.
Schreibe morgen eine bessere Version dessen, was ich gerade löschte. Diese Verzagtheit zu verzeihen, bittet die in einer Wohnung versammelte M. Im Innenhof aber formieren sich Sprechchöre. Wohingegen im Untergeschoss knallen die Türen.
Feiert man hier denn womöglich am 10.10. das Fest: Eins Vor 11.11.? – Mag sein, aber um welche Zeit? Gewiss nicht um 21:20, mutmaßt die M.