RKS KUNSTESCORT

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Genaugenommen herrscht hier Egozentrik. Wir generieren Daten, doch wir verarbeiten sie nicht. Wir suchen auch keinen Kontakt. Und versäumen es häufig, selbst wohlmeinende Kommentare freizuschalten. Dafür bitten wir um Entschuldigung. Dies hier funktioniert wie ein Buch. Mit Ihren Anstreichungen haben wir nichts zu tun.

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Zu den Arbeiten von Lutz Fezer: EIN VERMÄCHTNIS.

 

V          E          R

 

EIN VERMÄCHTNIS – das ist eine Hinterlassenschaft, die kein Erbe ist. Etwas, das verbleibt, zur gezielten Übergabe an die, die noch da sind. Einer oder eine hat es aus der Hand gegeben. Ein Ding oder eine Sammlung, etwas, das die so Bedachten gleichwohl mit einer Verpflichtung ausstattet: zu treuen Händen. Denn das Ende hat die Dinge aufgeladen, hat sie ihrerseits mit einem Überdauern ausgerüstet. Darin sind sie den Menschen überlegen. Ihr unverändertes Bild schaut uns entgegen. Und denen, die nach uns kommen, wenn wir es nicht mehr sehen. Gemacht, vermacht, ein schauerndes Vermächtnis. VER- ist ein Präfix bei Verben und zugehörigen Nomina, seine Funktionen sind vielfältig.[1]

 

V  E  R-  KENNZEICHNET EIN BESEITIGEN, WEGSCHAFFEN, AUFBRAUCHEN…

                                               (verrücken, vertreiben, verzehren)

 

Es ist ein sturer Blick, eine stabile Fixierung – doch ist der Blick auch um ein Leichtes verrückt. Er fesselt mich, er weist mich ab. Er tut beides in einem. Ist das schon Verführung? Ich sehe die Bilder, Zeichnungen. Skizzen, sehe ich, eines Verschwindens. Sie scheinen nicht am Anfang zu stehen und von dort aus auf eine Verwirklichung mit anderen Mitteln zuzuführen, nein, sie gehen vielmehr zum Anfang zurück. Als ginge es in die Vergangenheit eines Werkes, aus dem ich vertrieben worden bin. Es ist eine Auflösung in der Wiederkehr. Wir werden Zeuge. Die Erinnerung trieb mich aus dem Haus. Dann hab ich sie gesehen, sie wartete an einer Haltestelle, sie wartete dort, ohne jede Bewegung. Ich wollte sie solange betrachten, bis sie verschwände, bis ich hätte sagen können: „Mein Blick hat sie verzehrt“.

 

Es heißt, sie sei verrückt geworden. Shocktreatment. Die Bahnen in meinem Kopf, entlang derer mein Verlangen verlief – erst unter Narkose gesetzt und elektrifiziert, dann planiert. Die leeren Speicher knisterten, als richteten sich frosttrockene Gräser auf. Ich begann also von Neuem. Wieder erschien mir ihr Bild. Aber ich konnte nicht alles erkennen, auf meiner Netzhaut flächige Störungen. Die waren trügerisch. Jemand behauptete, es gäbe nun noch viel mehr als soundsoviele Gründe, sie so zu lieben. Die Zahl? Die Zahl war nicht zu lesen. Die Zeichnung schraffierte das Bild aus dem Kopf. Ich war nicht da. Ich nahm Maß.

 

Die Bilder kehrten zurück. Ich sah sie in all ihren Schablonen, fragile, fatale, enfante. Ich wusste, dass ich mich täuschte, aber ich täuschte mich sehr. Das heißt, es war eine sehr gelungene Täuschung, die alles andere vertrieben hatte. Sie kam auf mich zu, hielt einen Moment inne, während die Dinge um sie herum in Raserei gerieten, und sich, in dem Moment als sie ihren Arm bewegte, sofort wieder beruhigten. War sie in Bewegung, stand alles andere still. Die Hand an ihrem linken Arm schien eine Welle zu beschreiben, eine sehr kleine Welle. Indes verharrten die Dinge an ihrem Ort, als würden sie einander belauern. Offenbar durfte sich immer nur eines bewegen: Sie oder ihre Umgebung, aber niemals beides zugleich. Die Dinge erstarrten also für eine Zehntelsekunde, als sie ihre Wimpern senkte und hob. Die Dinge erstarrten, als ihr Haar sich bewegte. Wann immer sie ging, ging sie durch eine erstarrte Welt. Dieses Phänomen ließ sich endlos wiederholen. Sie sagte: „An dieser Haltestelle hält niemals ein Bus“. Keine Reaktion.

 

…EIN FORT- UND ZUGRUNDEGEHEN…

                                               (verdunsten, verklingen, verschwinden)

 

Sie war kaum noch zu sehen, ihre Stimme verklungen. Ich wiederholte: „An dieser Haltestelle hält niemals ein Bus“. Bus. Bus. Bus. Bus. Bus. Blanchot riet: „Machen Sie sich die Mühe und hören Sie auf ein einzelnes Wort. In diesem Wort kämpft und schuftet das Nichts, unermüdlich gräbt es, tut alles, um einen Ausweg zu finden, um zunichtezumachen, was es umschließt – es ist unendlich unruhig, amorphe, namenlose Wachsamkeit.“[2] Was ist das, ein nochmals verdinglichtes Ding? Was passiert, wenn ich die Verdinglichung weiter und weiter steigere? Bringe ich sie ins Leben zurück – oder sende ich sie in ein Zwischenreich, in dem immer nur Ihresgleichen geschieht? „Sheer repitition exaggerates the sign into a wonder“[3], heißt es. Und wenn ich mich erinnerte, wiederholte ich dann nicht auch, nur aus einer anderen Richtung? Wiederholte ich alles ins Entgegengesetzte hinein? Aber die Wiederholung war auch eine Form der Verfeinerung. Mach es noch einmal. Mach es besser, wurde ich angewiesen. So vergrößerte sich der Wahrnehmungsraum, in dem jedes Wiedererscheinen etwas wie die Korrektur des vorangegangenen war. Es waren sehr viele winzige Fühler im Raum. Die Mitmenschen niesten wie Mäuse niesen müssen, splitternde Luft.

 

Aber ich konnte nichts mehr sehen. Ich wollte wieder fragen: Was passiert mit dem ins Unendliche verrückten Bild? Vertreibt es sich selbst? Zehrt es sich auf? Der Bleistiftstrich war ein Faden, an dem ich das Bild auflöste, indem ich ihn zog. Ein verzehrendes Fädchen. Erst löste sich das Bild auf, dann auch das Fädchen. Das Gleiche in Farbe: Die Farbe ließ das Bild verdunsten. Sie hat sich selber übersprayt. Doch wohin mit dem Spray? Für das Spray war keine Stelle mehr frei. Verdunstende Dämpfe. Ich hätte mir selbst zwei Liter Nitro gespritzt, hätte ich die Auflösung als eine stimmige Richtung denken können. Aber das tat ich nicht. Jemand sprach von einer zentralen Diffusion, aber ich konnte mich nur an die Plakate erinnern. Es gab eine Zeit, da waren sie überall. Ich wusste nicht, wofür sie warben. Doch sie waren da.

 

…EIN IRRELEITEN ODER FEHLGEHEN…

                                               (verführen, verwechseln, sich verzählen)

 

Dann griffen die Ornamente auf mich zu, legten sich um meinen Hals und verzierten ihn mit ihren sich windenden Schlingen. Ins Laubwerk gebannt hielt ich still, die Ranken spielten mit mir. Sie neckten mich und waren mir sehr nah. So fixiert kam ihr Bild zu mir zurück, es waren dünne Konturen, die sich mit einer beleidigenden Langsamkeit fast unmerklich füllten, dann schließlich ihre Form angenommen hatten. Da war sie also wieder. Sie machte mir ihre Stimmung klar und ich konnte alles sehen, alles verstehen. Es nickten die Ranken mit ihren Köpfchen. Da waren auch Blüten, oder es kam mir so vor. Dann schwanden mir endgültig die Sinne. Als ich neben dem Album erwachte, war es Oktober. Ich legte die Seiten um. Nein, sie war nicht fort. Sie ist mein Freund. Selbst, nachdem alle gegangen waren, war sie noch da. Sie blieb. Aber war es wirklich sie?

 

Das war sicher nicht korrekt. Ich richtete mich auf. Eigentümlicherweise trug ich mein Sakko auf links, ohne die Erinnerung daran, es gewendet zu haben. Ich tastete mich ab und konnte keine Verluste feststellen. Noch immer war kein Bus gekommen, oder ich hatte mich verzählt. Es gab keine Schilder, weswegen ich nicht wusste, ob an dieser Haltestelle je ein Bus halten würde. Ich beschloss dennoch zu warten. Erst als die Täuschung nachließ, begriff ich, dass es sich um eine Täuschung gehandelt hatte, die nun damit aufhören konnte, mir die Welt zu sein. Ich lernte aufs Neue zu unterscheiden. Ich dachte an das Störrische und Sture der Ricci, dann an ihre mutwillige Nachgiebigkeit. Charles hatte gesagt (en francais): „In ihrer kleinen Stirn wohnen zäher Wille und Raublust“[4], ich musste widersprechen. Und verwechselte versehentlich Cordially mit Conspirationelly. Yours. Das Rot dominierte das Blau. Das konnte keine Verwechslung sein. Sie buhlte um Todesgefährten. Wie dünn sie damals war. Man möge ihr folgen, in den Tod, doch ihr durchgedrücktes Kreuz, war das nicht eine eigenartige Pose für eine Todespredigerin? Andererseits im Sinne der Abspaltung verdrängter Anteile der Libido aber auch irgendwie logisch. Ich hätte zu Fuß gehen können, war mir aber nicht sicher wohin. Als sie mich noch führte, war mir das Wohin ganz gleichgültig gewesen. Wahrscheinlich hatte ich auch damals schon etwas verwechselt.

 

…DAMIT AUCH AUSDRUCK DER NEGATION…

                                               (verbieten, versagen)

 

Ich hatte ja nichts als die Bilder. Ich musste mir die Versagung mit ihnen ausstaffieren. Ich zeichnete sie nach, innerlich, äußerlich. Es waren Verbote und es war die Übertretung. Die Versagung immer wieder zu erneuern, aber dies auf tröstende Weise zu tun – das war sicher keine Verwechslung. Lass da all meine Zeit hineingehen. Es gab ja nichts hinter den Bildern. Doch das, was hässlich und dumpf war, wurde mit ihrer Hilfe aus der nächsten Umgebung verjagt. Man sollte viel später auf die Spuren dieser Verdrängung stoßen. Es musste erst dunkel werden, um zu geistern. Ein irres Licht lag auf den Schläfen der Betrachter. Sie wussten, dass sich ein Bild als eine beständige Konjunktion verstehen lässt. Andere Betrachter aber erfuhren das gleiche Bild als einen Hinweis auf ein Ding, das nicht da ist, das ebenso wie das Ding, das da ist, von einer Halluzination nicht zu unterscheiden war.

 

…FERNER HAT ES RESULTATIVEN SINN…

                                               (verbluten, verpacken, vertilgen)

 

Die Farben – als sie kamen, fragte ich mich, heben sie etwas hervor oder legen sie sich darüber? Fixieren sie meinen Blick auf eine Stelle, an der sie mir Wissbegier eingeben, nach dem, was sich einmal darunter befand? Ich löste Häutchen für Häutchen, das hätte etwa 10.000 Jahre gedauert, denn man musste mit höchster Achtsamkeit vorgehen. Etwas anderes war die Erschöpfung. Ich sah ihre schwächelnden Farben, als wollten sie ineinander verbluten. Eines wäre, dass sie das Gegebene einhüllten, verpackten – ein Anderes aber, dass sie im Stillen an der Tilgung des Vorangegangenen arbeiteten, wie listige und innerlich wilde Pigmente. Ich hielt sie eher für Tücher, möchte sagen für Seide, für eine seidige Hülle. Es legten sich mehrere Oberflächen übereinander, die konkurrierten. Manchmal aber fand ich eine liebliche Schicht vor, als würde man, im Halbschlaf fröstelnd, zugedeckt, ohne zu wissen von wem. Ungerichtet. Eine Spur von Dankbarkeit trieb auf der Oberfläche des Schlafes davon, ich aber lag so tief darunter, dass ich nicht das Geringste bemerkte. Da war nur das Wissen darum (weniger Wissen als vielmehr Gespür), dass alles um mich her flüssig war und in weicher Bewegung.

 

…DIENT DER TRANSITIVIERUNG…

                                               (verfolgen, verheiraten, verspotten)

 

Transitive Verben, zumindest die meisten davon, regieren ein Akkusativobjekt. Ich verfolge. Wen? Die Ricci. Ich verheirate. Wen verheiratest du? Die Ricci. (Mit wem? Das ist Dativ, das heißt, das ist geheim. Darüber kann ich keine Auskunft geben.) Ich verspotte. Wen? Die Ricci. Nein. Nein. Ich verspotte sie nicht. Ich verfolge sie aus der Ferne. Ich verheirate sie nicht. Ich werde sie niemals verspotten. Von transitiven Verben kann ein persönliches Passiv gebildet werden. Das bedeutet, sie wird niemals von mir verspottet werden. Versprochen.

 

…DEM HERVORBRINGEN VERBALER ABLEITUNGEN.

(verdeutlichen, vergöttern: deutlich, zu einem Gott machen,

                                               verarmen, verholzen: arm, zu Holze werden)

 

Jemand sagte mir, man brauche die Obsession, um überhaupt etwas deutlich zu sehen. Erst wurde es Holz, dann Teer und dann Gold. Und dann – kam endlich ein Bus.

 

 

 

 

 


[1]             Alle genannten Beispiele sind unverändert dem Etymologischen Wörterbuch des Deutschen entnommen. Erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin, unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. München 1995, Seite 1497.

[2]              Maurice Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod. Zitiert und übersetzt nach The Station Hill Blanchot Reader. New York 1999. Seite 382.

      [3]              Denise Riley: Echo, Irony and the Political, in: The Worlds of Selves. Identification, Solidarity, Irony. Standford University Press 2000, Seite 158.

[4] „Dans son petit front habitent la volonté tenace et l’amour de la proie.“ Charles Baudelaire: Die Sehnsucht zu malen. Le désir de peindre, in: Der Spleen von Paris (Le Spleen de Paris). Übersetzt von Dieter Tauchmann. Leipzig 1990.

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